Kognitive Software ist mehr als künstliche Intelligenz

Das selbstfahrende Unternehmen des Jahres 2035 beruht auf intelligenten Entscheidungen, die auf enormen Datenmengen beruhen. Diese werden in hohem Maße von kognitiver Software getroffen: Ein Begriff, der über das aktuelle Verständnis von künstlicher Intelligenz hinausgeht. Während künstliche Intelligenz vor allem lernt, bestimmte Muster zu erkennen, gelingt es der kognitiven Software, hochflexibel intellektuelle Fähigkeiten nachzuahmen. Während die „klassische“ KI meist auf punktuelle Probleme ausgerichtet ist, kann kognitive Software auch Herausforderungen in dynamischen Systemen bewältigen. Sie kann sich anpassen, erweist sich als resilient bei Störungen und ist frei von den vielen menschlichen Fehleinschätzungen.

Künstliche Intelligenz ist erst der Anfang

Wie gut die künstliche Intelligenz bereits in alltäglichen Anwendungen am Handy funktioniert, zeigt sich anhand von Spracheingabesystemen, Übersetzungsprogrammen, Bildsuchefunktionen und aktuell vor allem anhand von ChatGPT, einem intelligenten Programm, das dialogorientiert interagiert. ChatGPT kann zu einem Problem in annähernd allen Wissensgebieten mit hoher Präzision Folge- und Detailfragen beantworten, sogar Fehler eingestehen, falsche Prämissen in Frage stellen und unangemessene Anfragen ablehnen.

Was im Alltag also bereits funktioniert, liegt für die meisten Unternehmen in weiter Ferne. Dennoch ist es höchste Zeit, den ersten Schritt in diese Richtung zu setzen.

Mittels Vernetzung von KI zu kognitiver Software

Die künstliche Intelligenz wird aufgrund der immer größeren Leistungsfähigkeit der Rechner im Kern immer auf „einzelnen“ Algorithmen basieren. Jedoch können aus der Vernetzung von immer mehr Teilsystemen höhere Formen der KI resultieren, wie aktuell ChatGPT zeigt.

Die heute bereits für viele Bereiche entwickelte KI ist meist jedoch „nur“ eine „Narrow AI“, bei der ein Lernalgorithmus darauf ausgelegt ist, eine einzelne Aufgabe auszuführen. Sämtliche Erkenntnisse, die bei der Ausführung dieser Einzelaufgabe generiert werden, können nicht automatisch auf andere Aufgaben angewendet werden, wie es bei der Arbeit in Unternehmen ja Alltag ist. Das langfristige Ziel ist daher die „General Intelligence“, die komplexe Denkprozesse von Menschen nachahmt. Daher wird die KI, wie sie aktuell am Vormarsch ist auch „schwache KI“ genannt.

Kognitive Software weist bereits in Teilbereichen Charakteristika von General Intelligence auf. Für die Entwicklung von kognitiver Software gilt es daher zunächst zu analysieren, wie menschliche Intelligenz in all ihrer alltäglichen Vielfalt funktioniert. Wie ChatGPT zeigt gilt es, der Software zu ermöglichen, die gleiche Art von kontextbezogenem, „gesundem Menschenverstand“ zu zeigen wie Menschen – und damit aus dem bisherigen, engen „Problem Space“ herauszutreten. Denn wir haben bereits heute mehr als genug Computerleistung, um in Teilbereichen kognitive Software einsetzen zu können.

Kognitive Software entscheidet selbstständig, vorausschauend und nachvollziehbar

Die wichtigsten Anforderungen an kognitive Software ist die Nachvollziehbarkeit und die Vorhersehbarkeit von Entscheidungen. Damit kann sie in den Unternehmen vielfältige Tätigkeiten übernehmen:

  • Fortlaufende Auswertungen großer Datenmengen
  • Identifikation von Mustern (z. B. beim Verhalten von Kunden und Märkten)
  • Interpretation von Korrelationen
  • Erstellung individualisierter Services
  • Präzise, datenbasierte Chancen- und Risikobewertung
  • Anbindung von externen Datenquellen (z. B. Wetterdaten, Kreditinfos)
  • Beschleunigung von Entscheidungen bei Akutmaßnahmen
  • Präzise Einhaltung sämtlicher Compliance-Richtlinien

Gegenüber den Unternehmen, die diese kognitive Software implementieren, werden jene Unternehmen, die an analogen Entscheidungen festhalten, mit den immer größeren Datenmengen, denen sie zwangsweise im internationalen Wettbewerb ausgesetzt sind zunehmend Schwierigkeiten bekommen:

  • Sie werden immer langsamer und fehleranfälliger bei der Analyse und der Bewertung von Chancen und Risiken.
  • Sie können nur eine geringere Informationsdichte bewältigen.
  • Sie werden mit immer höheren manuellen Aufwänden bei der Informationserhebung und -verteilung in Richtung der Entscheidungsträger bald überfordert sein.
  • Die immer unzureichenderen Informationen können an verschiedenen Stellen beim der Verteilung im Unternehmen durch menschliche Schwächen, Fehler, Emotionen und Eigensinn verändert oder unterdrückt werden.
  • Der Informationstransport von Menschen kann einer kritischen Zeitverzögerung unterliegen, z. B. bei der Erstellung individualisierter Angebote oder bei akuten Krisen.

Für die zunehmende Bedeutung des Einsatzes kognitiver Software sind nicht nur die enorm wachsenden Datenmengen relevant. Unter den Bedingungen des immer rascheren Wandels sind in den Unternehmen Geschwindigkeit und Präzision von Entscheidungen immer essenzieller. Daher bedeutet eine analoge Struktur von Unternehmen mit geringem Automationsgrad in Zukunft eine immere geringere Fähigkeit, sich in einem immer komplexeren, immer rascher wandelnden Umfeld zu behaupten.

Kognitive Software vermeidet menschliche Fehler

Während kognitive Software zwar die menschlichen Denkstrukturen nachahmt, zeichnet sie sich hingegen jedoch gleichzeitig dadurch aus, dass sie die typischen menschlichen Fehler vermeidet. Kognitive Software ist gegenüber Menschen also „echt“ kognitiv – während Menschen oft nur glauben, kognitiv-rational zu handeln.

Kognitive Software kann nicht nur viel größere Informationsmengen bewältigen – sie macht auch viel weniger Fehler und reagiert weniger impulsiv als Menschen dies bei vielen Entscheidungen tun. Dieser Umstand ist auf dem Gebiet der Verhaltensökonomie bereits bestens erforscht: Menschen sind nur in geringem Ausmaß imstande, die ökonomisch beste Entscheidung zu treffen, vor allem bei Vorliegen großer Mengen an Information, bei Stress, Angst und Ablenkung – also im bisher üblichen Büroalltag – zeigen sich erhebliche Verzerrungseffekte.

  • Information Overload: Bei zu viel Datenmengen werden aufgrund der begrenzten kognitiven Ressourcen von Menschen gegenüber kognitiver Software nur wenige – und oft die weniger relevanten Informationen für infolge falsche Entscheidungen herangezogen.
  • Stereotypenbildung: Der Mensch neigt gegenüber kognitiver Software dazu, neue Informationen bekannten Typologien zuzuordnen. Dabei bevorzugt er Stereotypen, die ihm gut bekannt und vertraut sind – auch wenn die neue Information überhaupt nicht ins Schema passt. Auf diesem Prinzip beruht auch das bekannte Vorurteil. Da dieser Prozess meist unbewusst erfolgt, ist es besonders schwierig, diese Effekte zu erkennen und objektiv zu reflektieren.
  • Ankereffekt – „first impressions are the best“: Ist ein Mensch mit einer neuen Situation konfrontiert, fließt die erste Beurteilung nachhaltig auch auf weitere Beurteilungen ein, auch wenn sich diese erste Einschätzung als falsch herausstellt. Hingegen verhält sich kognitive Software hier vollständig rational.
  • Halo-Effekt: Oft werden einzelne Aspekte eines Sachverhaltes von der betroffenen Person subjektiv besonders stark herausstrahlend („Halo“) wahrgenommen. Die Dominanz dieses Eindrucks verzerrt infolge alle weiteren Entscheidungen in diesem Zusammenhang. Davon lässt sich kognitive Software nicht beeindrucken, sie verfolgt unbeirrt ihr Ziel.
  • Risky Shift: Dieser Effekt zeigt den Unterschied von menschlichen Einzelentscheidungen gegenüber Gruppenentscheidungen. Bei Entscheidungen in Teams ist die Tendenz nach gemeinsamem Konsens und nach Einstimmigkeit stark ausgeprägt. Von den Teammitgliedern wird angestrebt, Konflikte zu vermeiden, hingegen stehen harmoniefördernde Argumentationen, die sich gegenseitig bestärken im Vordergrund. Dieses Gruppenverhalten hat eine systematische Ausblendung von etwaigen Risiken zur Konsequenz und führt zu falschen oder riskanten Entscheidungen. Mit kognitiver Software werden viele Gruppenentscheidungen ohnehin obsolet, da sie imstande ist, sämtliche Expertisen der Teilbereiche systematisch und verzerrungsfrei zusammenzuführen.
  • Mentale Konten: Dieser Effekt kann am besten anhand eines Beispiels erläutert werden. Wenn wir eine Eintrittskarte für 100 Euro kaufen, und wir verlieren es auf dem Weg in die Oper, werden wir wahrscheinlich kein neues Ticket mehr kaufen. Haben wir noch keine Karte und verlieren auf dem Weg 100 Euro, haben wir rational betrachtet den exakt gleichen Schaden wie im Falle des verlorenen Tickets. Dennoch verhalten wir uns völlig anders und kaufen in diesem Fall um weitere 100 Euro ein Ticket. Warum tun wir das? Die Erklärung ist, dass wir Menschen bei Entscheidungen verschiedene mentale Konten führen. Im Fallbeispiel sind dies zwei Konten, eines für „Eintrittskarte“ und eines für die eingesetzten 100 Euro. Bei dem Verlust der Eintrittskarte kommt es zu einem Totalverlust der 100 Euro, das Konto wird zu stark belastet. Werden jedoch die 100 Euro verloren, wird der Verlust auf das mentale Konto „Gesamtvermögen“ bezogen und nur als geringfügig relevant erachtet. Das Beispiel zeigt, dass wir selbst in einer ökonomisch völlig simplen Situation aufgrund unserer unterbewussten Heuristiken irrational entscheiden.

Zusätzlich zu diesen Effekten kommen aufgrund psychologischer Spannungen in hierarchisch organisierten Organisationen, durch Konflikte und zutiefst menschliche Motive wie Macht und Erfolgsstreben, Rache oder Gier unzählige falsche Entscheidungen zustande.

Die Ausführungen zeigen, dass die immer gewaltigeren Datenmengen vieler Branchen im Sinne des Ziels des selbstfahrenden Unternehmens nur mehr mit kognitiver Software bewältigt werden können. Auch der zunehmende Fachkräftemangel wird diese Entwicklung weiter befeuern.

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